Cover
Titel
Albert O. Hirschman. An Intellectual Biography


Autor(en)
Alacevich, Michele
Erschienen
Anzahl Seiten
XVI, 332 S.
Preis
$ 34.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nikola Tietze, Centre Marc Bloch, Berlin

Michele Alacevich, Wirtschaftshistoriker an der Università di Bologna, hat mit seiner intellektuellen Biographie Albert O. Hirschmans einen informierten, höchst interessanten und auch für Nicht-Ökonomen verständlich geschriebenen Überblick zu dessen Werk veröffentlicht. Das Buch regt dazu an, die vielseitigen, Disziplingrenzen überschreitenden Arbeiten des 2012 verstorbenen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlers erneut zu lesen. Zudem besticht die Biographie dadurch, dass der Autor Hirschmans Arbeiten in die historischen Kontexte der jeweils geführten Debatten einordnet. Es ist Alacevich gelungen, auf der Basis einer Beschreibung der kontrapunktischen und interdisziplinären Reflexion Hirschmans – „his tendency to look for what the main disciplinary strand has neglected or overlooked“ (S. 249) – viele dominante Ideen in den anglo-amerikanischen und westeuropäischen Sozialwissenschaften des 20. Jahrhunderts zu konturieren.

Das von einem Vorwort eingeleitete Buch ist in acht Kapitel strukturiert, die in biographisch-chronologischer Folge jeweils ein Thema aus Hirschmans Werk aufgreifen. Alacevich erläutert für jeden Themenstrang Hirschmans Veröffentlichungen; er stellt dessen Forschungsfragen sowie die ausgelösten wissenschaftlichen Debatten in den jeweiligen gesellschaftspolitischen und internationalen Zusammenhang. Hierbei baut er auf der 2013 erschienenen Biographie von Jeremy Adelman auf.1 Alacevich thematisiert das durch „Grenzübertritte“2 geprägte Leben des 1915 in Berlin geborenen Hirschman (bzw. zunächst Hirschmann, 1940 und 1941 dann zeitweilig unter den Pseudonymen Hermant und Beamish) gleichwohl ausschließlich mit dem Ziel, dessen wissenschaftliche Reflexion begreiflich zu machen.

Die Kapitel 1 und 2 stellen Hirschmans frühe Arbeiten in der politischen Ökonomie vor. Es geht zunächst um dessen Analysen der französischen Geldpolitik und italienischen Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit, die Hirschman als Student und Doktorand sowie gleichzeitig Exilant und Widerstandskämpfer gegen den deutschen Nationalsozialismus und italienischen wie auch spanischen Faschismus in Paris, London und Triest unternommen hat. Später untersuchte Hirschman mit einem „gift for statistical analysis“ (S. 16) Geld- und internationale Handelspolitik. In seiner 1945 veröffentlichten Monographie National Power and the Structure of Foreign Trade erklärte Hirschman, wie Industriestaaten Außenhandelsbeziehungen als Instrument nationaler Machtpolitik nutzen. Alacevich zufolge standen Hirschmans Überlegungen im Kontext einer allgemeinen Debatte über die Schaffung einer internationalen Nachkriegsordnung: „Hirschman’s solution lay in a gigantic systemic transformation, from a world of sovereign states to a world in which economic sovereignty would be surrendered to supranational institutions.“ (S. 42) Hirschman selbst sah diese Idee zwar 25 Jahre später als unpraktikabel (S. 48). In der unmittelbaren Nachkriegszeit passte sein Fokus auf asymmetrische Interdependenzen der internationalen Handelsbeziehungen gleichwohl in den ideellen und politischen Horizont, in dem der Marshallplan (1947–1952) und die Europäische Zahlungsunion (1950) entwickelt wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Hirschman Leiter (1946–1952) der Western European and British Commonwealth Section des Federal Reserve Board (S. 55–63).

Die Kapitel 3 und 4 sind Hirschmans Arbeiten im Gebiet der Entwicklungsökonomie gewidmet, deren Inhalte und Methoden er maßgeblich mitbestimmte. Laut Alacevich entwickelte Hirschman seinen entwicklungsökonomischen Ansatz ausgehend von Untersuchungen einzelner erfolgreicher industrieller, landwirtschaftlicher und finanzieller Projekte (S. 73ff.). Dieser Ansatz, zunächst mit einer ökonomischen Perspektive in The Strategy of Economic Development (1958) und dann mit einer entwicklungspolitischen Perspektive in Journeys toward Progress (1963) veröffentlicht, richtet den Fokus auf die „backward and forward linkages“ solcher Projekte (S. 72, S. 83–89). Im Unterschied zur vorherrschenden Meinung in den Wirtschaftswissenschaften leitete Hirschman aus den partikularen Verflechtungen und hiermit verbundenen Dynamiken entwicklungsökonomische und -politische Verallgemeinerungen ab. Seine induktive Vorgehensweise ließ ihn zu einem Kritiker makroökonomisch ausgerichteter Entwicklungsplanung werden (S. 91). Hirschman verteidigte entwicklungsökonomische Entscheidungen, die sich an den lokalen Bedingungen der jeweiligen Unternehmungen orientierten und zugleich die historischen sowie gesellschaftspolitischen Dimensionen dieser Bedingungen berücksichtigten (S. 103ff.). Nicht zuletzt erweiterte er in dieser Hinsicht seine wirtschaftswissenschaftliche Perspektive auf die Untersuchung von Public Policies sowie von politischen Entscheidungs- und Problemlösungsprozessen. Im Hinblick auf letztere unterstrich er in Development Projects Observed (1967) und The Principle of the Hiding Hand (ebenfalls 1967), dass Ungewissheiten als Eigendynamiken in den Entwicklungsprozessen betrachtet und Nebenfolgen ins Zentrum von Projektevaluierungen bzw. Kosten-Nutzen-Analysen gerückt werden müssen (S. 121ff.).

In Kapitel 5 legt Alacevich dar, wie Hirschman während der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre seine wirtschaftswissenschaftlichen Überlegungen in die Richtung einer stark interdisziplinär angelegten sozialwissenschaftlichen Reflexion verschob. Dabei griff Hirschman eine ganze Bandbreite von Themen auf; er bot „compelling and novel analyses“ an (S. 135). Hierfür steht Hirschmans 1970 veröffentlichtes Essay Exit, Voice, and Loyalty: Responses to Decline in Firms, Organizations, and States (vgl. S. 152–171). Dreh- und Angelpunkt der intellektuellen Umorientierung waren Hirschmans Überlegungen zum sozialen und politischen Wandel durch entwicklungsökonomische Projekte bzw. Entwicklungspolitik, durch Unzufriedenheit gegenüber abnehmender Performanz von Organisationen oder durch eine zu hohe Toleranz von Einkommensungleichheit. Im Blick auf die Beziehungen zwischen den USA und zentral- sowie südamerikanischen Ländern, auf die sich dort etablierenden autoritären Regime in den 1970er-Jahren und auf die Protestbewegungen in den USA am Ende der 1960er-Jahre kritisierte Hirschman die dominanten verallgemeinernden Modellierungen von gradlinigen Entwicklungspfaden. Letzteren stellte er mit Exit, Voice, and Loyalty einen Ansatz entgegen, der sozialen Wandel als mehrstufigen, von Dissonanzen und Gegenbewegungen geprägten wie auch Markt- und Nichtmarktmechanismen verbindenden Prozess behandelt.

Wie Alacevich ausführt, löste Exit, Voice, and Loyalty in der US-amerikanischen Forschung eine Debatte über den Nutzen politikwissenschaftlicher Konzepte für die Analyse ökonomischen Verhaltens aus (S. 155). Das Buch wurde in diversen Untersuchungen der Bewegungsforschung und Organisationssoziologie aufgegriffen wie auch in die Analyse von Machtasymmetrien zwischen Zentrum und Peripherie integriert (S. 165ff.). In wirtschaftswissenschaftlicher Hinsicht wiederum stellte das Buch die allgemeine Annahme in Frage, dass Wettbewerb „the master mechanism of functioning markets“ darstelle (S. 157).

Die Kapitel 6 und 7 sind Hirschmans ideengeschichtlichen und demokratietheoretischen Arbeiten gewidmet. Alacevich unterstreicht durch die Erläuterung des Buchs The Passions and the Interests: Political Arguments for Capitalism before Its Triumph (1977) und der March-Bloch-Vorlesung an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (Paris, Mai 1982), die unter dem Titel Rival Interpretations of Market Society: Civilizing, Destructive, or Feeble? veröffentlicht wurde, Hirschmans Beitrag zur Wissenssoziologie (S. 192) sowie zur „history of languages, vocabularies, ideologies, and paradigms“ (S. 193). Diese Arbeiten bildeten die Basis für Hirschmans Analysen über die Rolle der Ideologien in Lateinamerika (S. 195) wie auch über die Bedeutung nicht-intendierter Folgen von Handlungen und Entscheidungen für den sozialen Wandel (S. 199). Im Kontext der sich um 1980 verschärfenden politischen und wissenschaftlichen Debatten über die Grenzen des Wohlfahrtsstaats (S. 231ff.) nahm Hirschman seine Demokratieforschung wieder auf (S. 207). Stärker als früher bettete er seine Reflexion in eine Auseinandersetzung mit sozialstaatlichen und -politischen Problemen ein (S. 211). Hierfür stehen, wie Alacevich darlegt, zum einen das 1982 veröffentlichte Buch Shifting Involvements: Private Interest and Public Action und die ideengeschichtliche, 1991 veröffentlichte Analyse wohlfahrtsstaatskritischer Thesen und Diskurse: The Rhetoric of Reaction: Perversity, Futility, Jeopardy (S. 235ff.). Zum anderen beschäftigte sich Hirschman während der 1980er-Jahre mehrfach mit Bürgerbewegungen, die sich in lateinamerikanischen Staaten bildeten und für die Verbesserung sozialer Infrastruktur eintraten (S. 219ff.).

In Kapitel 8 fasst Alacevich das „Vermächtnis“ von Hirschmans Werk für die Sozialwissenschaften, die Ideen- und die Wissenschaftsgeschichte zusammen. Er nennt zunächst „Hirschman’s resistance to precooked recipes and standard explanations“ (S. 247). Hirschman habe diesen Widerstand nicht unbedingt durch eine Teilnahme an den wissenschaftlichen Debatten zum Ausdruck gebracht, sondern eher dadurch, dass er sich aus Debatten herausgehalten und seine eigenen Forschungen jenseits der Trennlinien in solchen Debatten entwickelt habe. Zudem habe Hirschman aus dem Zweifel eine zentrale Methode wissenschaftlichen Arbeitens gemacht, ein Instrument „to elaborate theories that can explain processes of social change […] and to imagine paths of reform and steps toward more satisfying arrangements of social interrelationships“ (S. 249). Alacevich kennzeichnet Hirschman als einen Sozialforscher, der aufgrund der Aufmerksamkeit für unbeabsichtigte Folgen menschlichen Handelns, für verborgene soziale Dynamiken und Dissonanzen „the unique rather than the general, the unexpected rather than the expected, and the possible rather than the probable“ untersucht habe (S. 251).

Hirschmans wissenschaftlicher und methodischer Ansatz hat sich in den Sozialwissenschaften nicht durchgesetzt, wie Alacevich am Beispiel der heute als Spezialgebiet verschwundenen und in einer allgemeinen neoklassischen Wirtschaftswissenschaft aufgegangenen Entwicklungsökonomie erläutert (S. 258). Gleichwohl bleiben Hirschmans Arbeiten für entwicklungsökonomische und -politische Fragen in methodischer Hinsicht bedeutsam (S. 259). Dies gilt angesichts der gegenwärtig dominierenden sozialwissenschaftlichen Ansätze und politischen Diskurse umso mehr für Hirschmans Reflexion über sozialen Wandel, für seine Analysen von politischen Entscheidungsprozessen, sozialen Bewegungen, Debatten über die Wohlfahrtsstaatlichkeit und Konflikten über die Qualität öffentlicher Dienstleistungen. In dieser Hinsicht kommt Michele Alacevichs gelungene intellektuelle Biographie über Albert O. Hirschman zum richtigen Zeitpunkt.

Anmerkungen:
1 Jeremy Adelman, Worldly Philosopher. The Odyssey of Albert O. Hirschman, Princeton 2013.
2 Albert O. Hirschman, Grenzübertritte. Orte und Ideen eines Lebenslaufes, in: Leviathan 23 (1995), S. 263–304.